la kritze

Dienstag, 2. Juni 2015

Minotauren

Im Haus lebt ein Mann.
Zwei Gänge weit, zwei Zimmer breit liegt seine Tür. Dahinter ruht er ungesehen,
ist kaum der Andacht wert.
Er hat ein Bett aus Eisengitter,
und kein verlässliches Knochengerüst.
Das lässt ihn keinen Schritt weit tun. Den Himmel hat er daher
seit Jahren nicht gesehen.
Er starrt sich Löcher in die Wände,
durch die er dann
nach draußen sehen kann. Nur noch gelegentlich
erzählt er sich, wie gut es doch in seiner Jugend war. Von Tagen am Badesee spricht er,
von Mädchen, halbherzig kokett, die anzuschauen er kaum wagte,
und wenn er an die Mutter denkt
und sie ihn mahnt,
nicht allzu spät
zum Essen zu erscheinen,
fängt er zu weinen an.

Die Frau, einst schön,
deren Antlitz niemand mehr in einem Rahmen wahrt, liegt röchelnd zwischen Türen 
mit Lungenversagen. Sie zählt die Spinnen an der Zimmerwand, es sind
der Lebenden drei nebst einem schwarzen Fleck. Die Kleinste hat ein Pfleger einst 
mit seinem Daumen tot gedrückt.
Seither stellt die Frau,
ihrer Gesellschaft beraubt, das Wimmern nicht mehr ein.
Lange will niemand nach ihr schicken.
Da macht ein Mann vor ihrer Türe halt. Er fragt:
„Was fehlt dir, Margarete?“ Er kennt sie nicht.
Selbst ihr Gesicht
löst nichts Vertrautes in ihm aus.
Auch ihn habe man der Einsamkeit ausgesetzt,
doch ließ er die Türe offen.
„Im Haus lebt ein Stier“, sagt er zu ihr.
Der habe die Hörner zum Himmel gekrümmt, weil er die Richtung kennt.
Sein Hemd sitzt falsch verschlossen.
Die Knöpfe haben ihre Schlupflöcher untereinander ausgetauscht.

Die Minotauren fürchten nicht, erheben sich
zum Klageschrei.
Sie wurden ausgesperrt, weil vor ihrem Anblick
dem gesunden Auge graut.

Mittwoch, 6. Mai 2015

Der Rabe


Im dunklen Federkleid ist er mir
Unglück und Gefährte zugleich
Als einseitiger Begleiter zeigt er sich, denn wesentlich
weiß ich, dass er mir nicht treu sein kann
und immer erscheint, weil er den Vorteil erhofft
An kalten Wintertagen, da er der Wärme Schutz bedarf
und um der Hitze zu entfliehen im launischen Sommer
Doch manchmal lässt er sich, unwissentlich
zum Streicheln herab
Er muss sehr stolz sein auf sein Federkleid
Mir einsamen Menschen Daheim ist es Wonne
darüber zu gleiten, gerade in Zeiten, in denen
selbst Unwirkliches trostlos erscheint
Es ist naiv, in ihm Gesellschaft zu sehen
Ich biete ihm Essen, auf dass er länger verweilt
ganz selbstvergessen taucht er dann
den Schnabel hinein, der Rabe
so bleibt er für sich, bis ihm ein Stein
den Schädel zerbricht
und ihm seine Zuversicht nimmt

Mittwoch, 18. März 2015

Freitag, 13. März 2015

Papierschiff

Sie wirft Anker und wird singen
entzwei mein Schiffchen aus Papier
schneidet es mit edlen Klingen
schreit sich zu kälteren Gewässern
es sinkt und niemand singt mit mir

Till Lindemann: Messer


Flugzeuge falten gelingt mir nicht, aber Papierschiffe gehen mir leicht von der Hand.
„Iss dein Gemüse auf“, sagt Mama. „Dann kannst du in den Garten gehen.“
In einem Erdloch hat sich Wasser gesammelt. Das Gras ist noch feucht vom Regen. Wenn ich in die Sonne blinzele, brennen meine Augen. Der Glanz auf der Wasseroberfläche scheint dann nicht mehr so klar. Ich stelle mir vor, es ist das Meer, über das ich mein Papierschiff treiben lasse. Mit den Fingern erzeuge ich Wellen. Ich lasse sie gegen die Erdränder prallen. Ein schwacher Wind kommt auf und bringt das Schiffchen ins Wanken. Es strauchelt, fängt sich wieder, dann kippt es. Es läuft voll und ist beschädigt. Nichts ist mehr damit anzufangen. Ich drücke es tiefer in den Grund, dort soll es zur Ruhe kommen.

Am Abend trinke ich Milch durch einen Strohhalm.
„Du bist dünn geworden“, sagt Mama. „Du musst auf deine Knochen achten.“
Mit den Händen nimmt sie Maß an mir. Daumen und Zeigefinger schließt sie zu einem Kreis zusammen.
„Das ist dein Handgelenk“, sagt sie. Es macht mich ehrlich erschrocken. So dünn war es mir nie erschienen, nun sehe ich es durch ihre Augen.
Im Fernsehen schauen wir Nachrichten. Es passiert viel, das uns nicht betrifft, deshalb bleiben wir unaufgeregt. Das Wetter interessiert mich besonders. Regen mag ich lieber als Sonne, doch nicht an allen Tagen.
Mama schmiert Brote, während sie die Lottozahlen erwartet. Sie hat kein Glück. Sie sagt: „Dann bleiben wir eben arm“, und lacht, aber wir haben uns lieb. Wir herzen uns, weil wir einander haben.
Die Stimmen und den Motorlärm von Draußen schließen wir aus. Fremde Geräusche hat Mama nicht gerne. Selbst der Wind erscheint ihr aufdringlich. Ich schweige und trinke meine Milch, bis der Bauch sich wölbt wie ein Ballon, und nehme mir vor, an Gewicht zuzulegen.
Vor dem zu Bett gehen sehen wir alte Fotoalben durch. Das macht uns müde. Wir schwelgen in Erinnerungen, erzählen uns Geschichten, holen zurück, was einst verloren ging. Papas Gesicht bewahre ich auf Papier, mehr ist mir von ihm nicht geblieben seit er ging. Ob er groß war, weiß ich nicht mehr zu sagen. Auf den Fotografien kommt er mir wie ein Riese vor. Starrende Augen hat er gehabt, und ein Lächeln, das schief saß.
Vor dem Spiegel im Bad versuche ich, mein Lächeln zu kippen, bis es dem Seinen ähnlich wird. Ich leihe ihm dafür meinen Mund. Mama ist in der Tür. Sie weint und fürchtet, ich könnte mich in ihm verlieren, so ähnlich würde ich ihm werden, wenn ich die Stimme erhebe. Dabei stünde es ihm nicht zu, mich derart zu vereinnahmen, sagt sie. Es sei doch sie, der ich entnommen wurde. Ich schließe sie in die Arme. Dann wird sie weich und zugänglich.

„Triffst du das Mädchen noch?“, fragt sie und legt die Decke über mich. Ich werde verlegen.
„Nein, ich treffe sie nicht mehr.“ Das würde ich nicht wagen.
Vom Fenster aus aber sehe ich ihr gerne zu, wie sie sich am Morgen nach der Wäsche auf den Leinen streckt. Auf die Zehenspitzen muss sie sich stellen, so klein und zierlich ist sie von der Statur, sehnig und weich ist ihr Körper. Dicke Adern verlaufen wie Kanäle durch ihre Arme. Alles an ihr pulsiert und ist mit Leben gefüllt. Sie hat ein rotes Gesicht, das mich an Kirschen denken lässt.
Mit zittrigen Fingern falte ich ein Schiffchen zusammen. Kante an Kante lege ich die Seiten aneinander, öffne das Papier, knicke zwei Dreiecke um, das wird das Segel sein. Ich klappe es wieder zusammen, stülpe die Finger in die Öffnung und ziehe es auseinander. Die kleine Spitze dazwischen drängt nach Außen. Im Garten ist das Erdloch trocken gelegt. Wattige Wolken auf einem blauen Himmel, es ist kein Regen in Sicht. Das Mädchen hat die Wäsche in einem Korb verstaut. Jetzt dreht sie sich mir zu, hat mich am Fenster erspäht. Sie hebt den Arm zu einem Gruß und legt das Dunkle unter ihren Achseln frei. Früher habe ich Perlen darin gesucht. Ich winke, aber unbeeindruckt. Bald ist sie im Haus und ich bleibe leer zurück.
„Herzen“, sagt Mama, „müssen gebrochen werden, damit sie auslaufen können. Wie sonst lassen sie sich von Neuem befüllen?“
„Denk nicht an sie“, sagt sie weiter, als würde sie meine Gedanken sortieren, wie sie es mit der Wäsche im Schrank macht. „Du hast doch mich.“

Unten ist der Tisch für zwei gedeckt, die Vorhänge sind zugezogen. Eine Girlande hängt über der Tür, darauf mein Name, nur der letzte Buchstabe baumelt träge. Das Leuchten der Kerzen zeichnet dunkle Schatten in unsere Gesichter. Obwohl sie lacht, wirkt Mama alt und traurig, als sie mich in die Arme schließt. Der Tag meiner Geburt ist nicht nur ein freudiges Ereignis. Sie schenkt uns Tee ein und lässt zwei Würfel Zucker in meine Tasse fallen. Ich mag den Tee lieber ungesüßt. Beim Umrühren schlägt der Löffel gegen das Porzellan. Das Geräusch bleibt in der Stille stecken. Mama stimmt ein Lied an und klatscht in die Hände im Takt. Das Kuchenstück teile ich mit einer fleischigen Fliege, die sich im Zuckerguss die Beine säubert.
An meinem Geburtstag möchte ich mich glücklich denken und wäre lieber andernorts. Auf dem Papierschiff würde ich zu dem Mädchen treiben und mit ihr die Welt entdecken. Ich träume davon, wie sich die Meeresdecke im Rausch an Hindernissen schaumig schlägt.

Mama erzählt die selbe Geschichte seit fünfunddreißig Jahren, aber ihre Erinnerungen sind nicht meine. Ich war allein am Deck ihres Schiffes, als das Meer unter meinen Füßen zu toben begann. Wogen von Wellen schwappten über, um mich unter sich zu begraben. Durch die Decke über mir ging ein Riss. Gleißendes Licht fiel auf mich herab. Die Luft war schwer und feucht. Der Druck lastete auf meinen Lidern. Um nicht ins Dunkle abzutreiben, war ein Tau an meinen Bauch gespannt. Ich tastete danach und wollte es zu fassen kriegen, doch vergebens, es entglitt meinem Griff. Der Sturm war gewaltig. Im Tosen, im Aufbegehren ließ er mich gegen die weiche Reling prallen. Mein Körper wurde herumgerissen. Das Tau wickelte sich um meinen Hals und drückte mir die Luft ab, bis ich blau und träge wurde. Erst fremde, kalte Hände mussten mich nach oben ziehen. Das Schiff verlor sich in der Tiefe.
Manchmal wünsche ich mich dorthin zurück.

Ich muss an das Papierschiff im Garten denken, das ich in den Erdgrund drückte. Es ist so morsch und eingefallen wie Mamas von Tränen durchweichtes Gesicht, als sie mich zum ersten Mal ungläubig im Arm hielt, da sie mich verloren geglaubt hatte. Seither versprach ich ihr zu bleiben.

Wir essen Kuchen und schweigen. Später stellen wir den Fernseher an. Die Stimmung ist nur noch mäßig getrübt. Die Jahre ziehen vorüber, eines ums andere, und wir sind beieinander. Da kommt nichts dazwischen.
Mama weint und herzt mich. Sie nennt mich „Kapitän“.
Einst habe ich der wilden See getrotzt und bin nicht in ihr ertrunken.